Ziegen wie du und ich
Was ich von meinen vierbeinigen Weggefährten über Gott und die Welt lerne
Leseprobe aus »Ziegen wie du und ich«
Wie wenig Ahnung ich allerdings damals trotz der vielen Ziegenbücher von meinen Zwergen, ihrem Leben und ihren Bedürfnissen hatte, zeigte sich vier Monate nach ihrer Ankunft auf höchst überraschende Weise. Ich hatte mit einem Elektrozaun die Weide umgrenzt, Frieda und Alice lagen gemütlich wiederkäuend im Gras. In meiner Küche dampfte eine Suppe auf dem Herd und ich wollte mich gerade zum Essen setzen, als es draußen schrie. Laut, hell und irgendwie quäkend.
Naturbeobachtungen sind für mich eine tägliche Freude und die verschiedenen Laute der Tiere bei Tag und bei Nacht sind mir vertraut. Aber diesen Schrei konnte ich nicht zuordnen. Vogel? Reh? Vielleicht eine Katze? Die Suppe vom Herd stellen, in andere Schuhe schlüpfen, Stromzaun ausschalten und raus auf die Weide rennen dauerte nur fünf Sekunden.
Alice stand hinten in einer Ecke der Weide und irgendetwas lag zu ihren Füßen. Schwarz, klein, und es bewegte sich. Oh, ein verletzter Vogel? Ich ging vorsichtig näher und blieb mit offenem Mund stehen: Ein winziges Zwergziegenbaby lag im Gras und Alice begann es hingebungsvoll abzulecken. Sie war trächtig gewesen und ich hatte nichts davon gemerkt. All die Unruhe und Angst, der ganze große Stress der letzten Monate – und sie war trächtig gewesen und hatte das kleine Wunder des Lebens trotzdem nicht verloren.
Zwergziegen tragen ungefähr fünf Monate bis zur Geburt. Das bedeutete, kurz vor dem Wechsel zu mir war der Deckakt geschehen und der Anfang dieses einen neuen Lebens gesetzt worden. Ich ging zwei Schritte zurück und setzte mich ins Gras, um zuzuschauen und Gott zu danken. Zu danken für dieses kleine wunderschöne Wesen, das jetzt unsicher und stolpernd das Euter suchte und die ersten Tropfen der wichtigen Biestmilch, der ersten Muttermilch, trank. Ich konnte meine Augen kaum abwenden von diesem Bild. Die kleine Ziege war tatsächlich vollkommen schwarz, ich konnte kein einziges weißes Haar erkennen. Alice mühte sich weiterhin eifrig ab, ihr Kitz trocken zu lecken, während das kleine schwarze Wesen sich ins Gras plumpsen ließ.
Es wird immer wieder Stimmen geben, die hier nur einen normalen und gut verlaufenden biologischen Prozess der Reproduktion eines Säugetieres von der Gattung Capra sehen werden. Ich empfand in diesem Moment tiefe Ehrfurcht und große Dankbarkeit. Rational betrachtet war das bloß eine weitere Zwergziege auf der Welt. Eine Zwergziege, von der es Millionen gibt auf diesem Planeten. Aber mir wurde plötzlich bewusst, was für ein Geschenk dieses Neugeborene war. Ein kleines, vielleicht unscheinbares, aber trotzdem großartiges Geschenk des Lebens.
Ziegen wie du und ich.
Was ich von meinen vierbeinigen Weggefährten über Gott und die Welt lerne.
ca. 208 Seiten mit 8-seitigem Bildteil und vielen Skizzen in s/w
18,00 €
gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-86334-221-0